Donnerstag, 7. Juli 2016

Leserbrief in der Papierausgabe der ZEIT vom 7. Juli 2016

Seit mehr als 50 Jahren hören wir von Behandlungen, die endlich den Krebs besiegen können – doch die Zahl der Betroffenen nimmt stetig zu und alle Krebsarten zusammengenommen überlebt auch heute noch nur etwa die Hälfte der Patienten die Behandlungen. Wir können nun weiterhin darauf hoffen, dass bald eine Lösung für eine Krankheit gefunden wird, die in den kommenden Jahren jeden Dritten oder sogar die Hälfte von uns betreffen wird. Wir können weiter gegen den Krebs in den Krieg ziehen, indem wir ihn aus uns herausschneiden und uns vergiften und verstrahlen lassen – die einzige offizielle Antwort der Medizin auf diese Jahrhundertkrankheit. Wir können weiterhin so tun, als erwischte er uns heimtückisch und unvorhersehbar, so als fiele er vom Himmel auf uns herab: Zufall, Schicksal, Vererbung? Pech gehabt?

Wir können aber auch einen Moment innehalten und uns fragen, was diese Krankheit mit uns zu tun hat. Anstatt unsere Körper ausschließlich einer Medizin zu überantworten, die uns in unsere Einzelteile zerlegt und das Gesamte weitestgehend außer Acht lässt, können wir einen Blick darauf werfen, wie wir eigentlich leben in unserer Gesellschaft, wie unser Verhältnis zu uns selber ist, anderen und der uns umgebenden Natur gegenüber. Reflektiert nicht gerade Krebs die Verkapselung, Orientierungslosigkeit und Zerstörung, unter denen wir in unserer Gesellschaft leiden? Wir verschließen und verschanzen uns, viele von uns haben die Orientierung im Leben verloren. In alle möglichen Richtungen strömen wir aus auf der Suche nach Sinn – so wie die kranken Zellen in unserem Körper, die nicht sterben wollen und deshalb so gefährlich sind. Krebszellen folgen nicht der Apoptose, dem Selbstzerstörungsprogramm gesunder Zellen: Das Zeichen einer Suche nach mehr Leben, nach einem anderen Leben?

Seit ich 2012 die Diagnose Brustkrebs erhielt, beschäftigt mich nicht nur die persönliche, sondern auch die gesellschaftliche Dimension dieser Krankheit. Ich sehe in ihr eine Aufforderung, uns mit uns selber zu beschäftigen und uns zu fragen, was wir eigentlich wirklich wollen in diesem Leben. Sie zeigt uns, wo wir uns vergessen haben und um welche Aspekte unseres Lebens wir uns kümmern sollten. Sie lädt uns dazu ein, Stellung zu beziehen und eine Haltung zu wählen, die uns in unserer Einzigartigkeit entspricht und die Verbundenheit mit anderen Formen des Lebens respektiert. So können wir unser Gleichgewicht wieder finden, so können unsere Körper gesunden. Denn nur ein Organismus, in dem die Dinge harmonisch aufeinander abgestimmt sind, ist ein gesunder Organismus. Somit ist der Heilprozess des Körpers untrennbar mit den Prozessen verbunden, die unserer Gesellschaft zu mehr Frieden und Harmonie verhelfen. Wenn wir dazu bereit sind, diese Verantwortung unserem Leben gegenüber zu übernehmen, dann heilen wir nicht nur unsere kranken Körper, sondern auch die Welt, in der wir leben.